Volksgruppen

Berber

ln einem Land, in dem etwa die Hälfte der Bevölkerung berberischen Ursprungs ist, das aber durch Verfassung und (Schul-)Sprachenpolitik eindeutig als arabisch und arabophon definiert wird, finden sich die Berber nicht nur kulturell marginalisiert. Anders als etwa ln Algerien ist in Marokko ein spezifisches Berberproblem jedoch nicht virulent – allerdings gibt es im Parlament zwei vorwiegend mit Berbervertretern besetzte Parteien.

Zwar hatte Hassan ll. Schulunterricht in den wichtigsten Berbersprachen für die Primarstufe und auch Nachrichtensendungen auf Berberisch in Aussicht gestellt, aber dies wird nichts daran ändern, dass die Machteliten in Marokko, von der Armee einmal abgesehen, wesentlich arabische Machteliten sind.

Seit den frühen 1980er-Jahren beginnt sich in Marokko ein neues berberisches Selbstbewusstsein zu formieren, das zum einen durchaus politische Implikationen hat und zum anderen die spezifisch berberischen Traditionen einer uralten Kultur zu dokumentieren versucht. Derartige Bemühungen um Überlieferung und Identität stoßen vornehmlich auf zwei Schwierigkeiten: Die Berbersprachen sind gesprochene, nicht schriftlich fixierte Sprachen [Ausnahme ist das Titinar -Konsonantenalphabet der Tuareg); Begriffswelt und Wertekanon der Berber basieren ganz entscheidend auf dem Koran, also auf der arabischen Kultururkunde schlechthin, in der an keiner einzigen Stelle von den Berbern die Rede ist.

Wann die Berber den Maghreb besiedelt haben und woher sie kamen, ist in der Forschung umstritten. Sicher ist. dass sie lange vor den phönizischen Expeditionen das marokkanische Kernland besiedelten. Ihr Name geht auf den römischen Begriff barbari zurück, mit dem die römischen Kolonisatoren all diejenigen bezeichneten, die nicht des Lateinischen mächtig waren – und damit sozial stigmatisierten. Schon von den Berbern zu sprechen ist eigentlich unzulässig; sie haben, in rivalisierende Stämme zersplittert, in ihrer Geschichte weder einen eigenen Staat noch eine Nation gebildet.

In Marokko lassen sich drei große berberische Ethnien unterscheiden: die Chleuh (Nachfahren der Masrnouda-Berber, Sprache: Tachelhait), die Beraber (Nachfahren der Sanhadja-Berber, Sprache: Tamazirht) und die Rifkabylen (Nachfahren der Zenata-Berber, Sprache: Tarifi). Die Chleuh, ganz überwiegend sesshafte Ackerbauern, leben im westlichen Hohen Atlas und Antiatlas, in der Sousebene und in den Tälern von Dra und Dades. Die Beraber besiedeln den östlichen Hohen und Mittleren Atlas; sie leben vorwiegend als schaf- und ziegenzüchtende Transhumanten (Teilnomaden) – im Winter haust der ganze Stamm im Tal, wo die Felder bestellt werden. im Sommer wandert ein Teil der Leute mit den Viehherden zu den Bergweiden. Die Rifkabylen leben im Rifgebirge überwiegend als sesshafte Bauern, die freilich auch Schafe und Ziegenzucht betreiben. Viele Rifkabylen haben inzwischen ihre Obstbaumkulturen und den Getreideanbau zugunsten der Cannabisproduktion aufgegeben. Generell lässt sich sagen, dass die Berber eher Land-, die Araber eher Stadtbewohner sind; die einzige marokkanische Großstadt mit einer berberischen Bevölkerungsmehrheit ist Marrakesch. Das vergleichsweise tauglichste Merkmal, Berber und Araber zu unterscheiden. ist die Sprache. Demnach wäre derjenige ein Berber, der eine berberische Muttersprache spricht. Allerdings ist auch dieses Unterscheidungsmerkmal nur ein Behelf, da etliche Berber inzwischen gänzlich arabisiert sind. Während auch die meisten anderen Berber das Arabische leidlich beherrschen, gibt es vergleichsweise wenige Araber, die eine Berbersprache sprechen.

Obschon die offizielle Politik seitjeher den arabischen Charakter des Landes betont und gefördert ist vermutlich – dies lässt sich freilich nur schätzen – über die Hälfte der Bevölkerung berberischen Ursprungs. Die Dynastien der Alrnoraviden, Almohaden und Meriniden (auch der mit diesen verwandten Wattasiden) waren berberische Dynastien; Marokko ist der Maghrebstaat, in dem die Berber den mit Abstand größten Anteil an der Gesamtbevölkerung bilden. Auch wenn die großen Berberstämme patriarchalisch und patrilinear organisiert sind, ist die Stellung der Frau bei den Berbern, die die Polygamie stets abgelehnt haben, eine relativ freiere als bei den Arabern. Typisch berberische Siedlungsformen in Südmarokko sind die wehrhaft befestigten Dörfer (ksour), die gemeinschaftlich genutzten Erntespeicher (agadire) sowie die trutzigen, hochragenden Wohnburgen (kasbahs). Der Zentralgewalt des Sultans weitgehend entzogen oder erfolgreich gegen sie rebellierend, regierten einige Berber-Caids (vor allem die mächtigen Glaoua) bis in die 1950er-Jahre hinein praktisch als autonome Potentaten. Die Berber selbst nennen sich imazighen (freie Menschen), verwenden aber häufiger ihre Stammesnamen, dem das Präfix ait (die Söhne von .. _) vorangestellt wird. Es soll noch um die 300 Berberstämme in Marokko geben. Während die Islamisierung der Berber bereits im 8. Jh. vollzogen war, dauert ihre Arabisierung bis heute an.

 

Araber

Marokko definiert sich heute als arabischer Staat des Maghreb, Arabisch ist die Amtssprache des Landes. Die meisten Araber leben in den großen Städten, in der Zentralebene und in der Westsahara. Die wenigsten von ihnen sind rein arabischstämmig, Zählen vielmehr auch Berber zu ihren Vorfahren. Wie die Berber bilden auch die Araber keine ethnisch homogene Gruppe; die sozialen Unterschiede etwa zwischen modernen arabischen Stadtbewohnern und den Kamelnomaden der Westsahara sind mindestens ebenso groß wie jene zwischen Arabern und Berbern. Die ersten Araber stießen im 7. und 8. Jh. als islamische Eroberer nach Marokko vor. Die meisten arabischen Heere zogen nach Spanien weiter, dennoch begann sich der Islam schon ab dem frühen 8. Jh. durchzusetzen. Wesentlich gestärkt wurde das arabische Element durch den Einfall der Beni Hilal-Nomaden Mitte des 11.Jh. Durch andalusische Araber (von den Spaniern moriscos, Mauren, genannt), die in mehreren Fluchtwellen im 13. Jh., nach 1492, 1568-1578 und1609-1614 vor der christlichen Reconquista zurückwichen, hat Marokko mehrfach in seiner Geschichte sowohl Phasen einer vitalen Arabisierung (ab 1548 regierte mit den Saadiern die erste arabische Dynastie in Marokko) als auch kultureller Blütezeiten erlebt. Ursprünglich waren auch die Araber Nomaden. Ihre straff organisierten Stämme wurden den patriarchalisch beherrscht von caids (Stammesführern) und sheikhs (Führern von Stammesfraktionen), deren Ämter innerhalb bestimmter Familien erblich waren. Das religiöse Gesetz der Scharia wurde streng befolgt. ln manchen Regionen hielten die arabischen Nomaden Sklaven. Größere Stammesbünde bildeten sich nur sehr selten heraus, häufiger kam es dagegen zu religiösen Zusammenschlüssen. \/on den europäisierten Stadtbewohnern einmal abgesehen, ist die Stellung der Frau bei den Arabern eine weitgehend rechtlose, in jedem Fall streng untergeordnete. Für die sesshaften Landbewohner hat die traditionelle Stammesorganisation der Araber inzwischen nur noch geringe, für die Stadtbevölkerung praktisch keine Bedeutung mehr.

 

Juden

In Marokko lebt heute die größte jüdische Gruppe innerhalb eines arabischen Lande: obschon viele Juden nach 1948 (Gründung des Staates Israel), nach 1956 (Unabhängigkeit Marokkos) und nach 1967 (Sechstagekrieg) das Land verlassen haben. Auf dem Wirtschaftsgipfel in Casablanca 1994 wurde sogar die Etablierung politischer Interessenvertretungen in Rabat und Tel Aviv vereinbart, was sich dann durch die Intifada aber wieder zerschlagen hat. Mit Serge Berdugo, der 2005 zum Präsidenten der Jüdischen Gemeinde in Marokko gewählt wurde, war im November 1993 sogar ein jüdisches Kabinettsmitglied – Berdugo war Tourismusminister – ernannt worden. Die ersten Juden sollen bereits nach der Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. ins Land gekommen sein, weitere nach dem Eindringen der Araber in Palästina im 7. Jh. Die weitaus größte jüdische Gruppe kam erst zwischen dem 13. und 14. Jh. nach Marokko: Es handelte sich um andalusische Juden, Sephardim genannt, die ebenso wie die Muslime von den katholischen Spaniern vertrieben wurden. Sie siedelten sich fast ausschließlich in den Städten des Nordens an und waren überwiegend als Händler, Handwerker (vor allem Goldschmiede) oder Geldverleiher (der Koran untersagt den Muslimen den Geldverleih gegen Zinsen) tätig.

Schon im 13. Jh. wurden den Juden eigene Wohnviertel – die mellahs (melha, arab. Salz) – zugewiesen, wo sie eine gewisse Selbstverwaltung genossen, allerdings Sondersteuern und Kleiderordnungen unterworfen waren. Während der Protektoratszeit hoben die Franzosen, die auf die reichen jüdischen Bankiers und Händler angewiesen waren, die Beschränkungen für die Juden weitgehend auf- was den ››Sabbatgesellen« (Koran, Sure 4, Vers 50) den Hass marokkanischer Nationalisten eintrug. Die mit Nazi-Deutschland kollaborierende Vichy-Regierung versuchte vergeblich, in Marokko antisemitische Rassengesetze einzuführen – Sultan Mohamed V. hat alle derartigen Pläne außerordentlich couragiert bekämpft. Trotzdem kam es am Ende der Kolonialzeit mehrfach zu Pogromen in jüdischen Vierteln. Die jüdische Gemeinde in Marokko umfasst heute knapp 20 000 Menschen, die inzwischen nicht mehr an die Mellahs gebunden und äußerlich oft völlig europäisiert sind.

Sie leben in den großen Städten, vor allem in Casablanca. Mohamed Vl. versucht seit Jahren die jüdischen Fachkräfte im Lande zu halten bzw. ihre Reemigration zu fördern.

 

Haratin

Die Haratin sind Nachfahren jener schwarzen Sklaven, die die marokkanischen Sultane seit dem 16. Jh. (besonders unter Ahmed El Mansour und Moulay lsmail) in Westafrika zwangsrekrutierten und in ihre stehenden Heere pressten. Die meisten Haratin, die inzwischen stark mit Arabern und Berbern vermischt sind, leben in den Oasenregionen Südmarokkos, besonders im südlichen Dra-tal und im Tafilalet. Eigene Haratin-Stämme haben sich nicht ausgebildet; eine klare Abgrenzung zu den anderen Bevölkerungsgruppen ist ebenso wenig möglich wie eine verlässliche Angabe zu ihrer Zahl. Obwohl schon lange keine Sklaven mehr, werden die Haratin bis heute von den übrigen Oasenbewohnern und den Nomaden gering geachtet, bisweilen schlägt ihnen sogar in Sitten und Gebräuche unverhohlener Rassismus entgegen. Sie mussten in der Vergangenheit, manchmal bis heute, schwere und niedere Arbeiten verrichten und verachtete Berufe wie Gerber oder Schmied ausüben. Entsprechend gehören die Haratin zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen des Landes; andererseits spricht man ihnen magische oder heilende Kräfte zu. Häufig treten sie als Tänzer, Musiker, Gaukler oder Akrobaten in den Märkten des Südens auf: die Spektakel auf der Place Djemaa El Fna in Marrakesch sind fest in der Hand der Haratin.

 

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