Die ONA oder: Wem gehört Marokko?

Schon die Titelfrage ist pure Blasphemie. »A qui appartient le Maroc?«, »Wem gehört Marokko?«, hatte Moumen Diouri gefragt – und damit einen Kernbereich der marokkanischen Tabus berührt. Der König ist der mächtigste Großgrundbesitzer, Unternehmer und Bankier seines Landes, seine wirtschaftlichen Aktivitäten, besonders die Privatfinanzen des Monarchen, gelten als topsecret.

Moumen Diouri, als Regimekritiker 1964 in Marokko zum Tode verurteilt, seit 1971 im französischen Exil lebend, publizierte 1992 im angesehenen Pariser Verlag L’Harmattan eine 272 Seiten umfassende Studie über die Monopolisierung der marokkanischen Volkswirtschaft. Der Band gipfelte in der Forderung, Hassan Il. vor einem internationalen Tribunal wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen. Seit Gilles Perraults Hassan-Biografie hat kein Buch in Marokko für einen derartigen Skandal gesorgt.

Die zentrale These des Autors lautet: Über die im Jahre 1924 gegründete, 1980 von Hassan ll. erworbene Holdinggesellschaft Omnium Nord Africain (ONA) werden die Schlüsselbranchen der Volkswirtschaft vernetzt und ihre Profite für die königliche Privatschatulle abgeschöpft.

Die ONA ist inzwischen die größte private Unternehmensgruppe in Afrika; Nahrungsmittelindustrie und Hotelketten, Stahlwerke und Immobilienbesitz, Zeitungsverlage und Fernsehstationen, Banken und Versicherungsunternehmen, Transportgesellschaften inkl. Textilfirmen, Minen und Fischfang – alles verwoben in einem königlichen Mammutkonzern namens ONA.

Die ONA ist nach Diouris Argumentation ein übermächtiges Wettbewerbs-verhinderungsinstrument, das mittels einer milliardenschweren Profitmaximierung die politische Position des Makhzen, der königlichen Zentralgewalt, festigt. Und auch die im Ausland gefeierten Privatisierungsbemühungen erscheinen nach der Lektüre von Diouris Studie in einem neuen Licht: Hassan ll. habe, dokumentiert der Autor, über die ONA etliche Staatsunternehmen kurzerhand an sich selbst verkauft.

Mit unerreichter Akribie hat Diouri die ONA durchleuchtet, ihre inneren Strukturen, ihre verzweigten Beteiligungen, ihre geheimen Hierarchien, ihre ambitionierten Aktivitäten. „Un groupe tentaculaire“=. die ONA als riesige Krake – das ist selten so anschaulich demonstriert werden wie hier.

Niemand hat sich vor Diouri der Frage, wem Marokko eigentlich gehört, so couragiert und so engagiert gestellt. Nicht nur, weil Hassan ll. und seinem Familienclan sage und schreibe 1 ,6 Mio. ha der fruchtbarsten Böden des Landes gehören, wird das Agrarland Marokko praktisch wie eine Privatfirma regiert.

König kauft Königreich, auf diese Formel lauten alle Recherchen Diouris hinaus. Was man diffus ahnen konnte – Diouri hat es en detail nachgewiesen.

Das Buch hat seine Brisanz bis heute behalten, weil die ONA auch unter der Regentschaft von Mohamed Vl. als Steuerungsinstrument der Nationalökonomie eingesetzt wird. Die ONA, im Prinzip auch für ausländische Investoren offen, ist inzwischen an der Börse in Casablanca notiert; Mohamed Vl. soll gegenwärtig über 50 % des ONA-Aktienbestandes halten.

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