Architektur und Sozialordnung bei den Berbern

Es ist nicht leicht, eine Übersicht über die Berberstämme zu gewinnen. So manches hat sich geändert, seit dem 14. Jh. Ibn Khaldoun, der bedeutendste Geschichtsschreiber Nordafrikas, die Berber in drei Grossgruppen eingeteilt hat: die Zennata, die Sanhadja, die Masmuda.

Die Zennata lebten ursprünglich nur in Libyen und Tunesien, von wo sie ihre Angriffe gegen Karthager, Römer und Griechen führten. Als aber die islamischen Glaubenskrieger aus Arabien nach Nordafrika einbrachen, liessen sie sich vom Erobererstrom mitreissen und fluteten vom 8. Bis 12. Jh. In grossen Scharen nach Algerien, Marokko und Südspanien. Zennata-Sippen halfen den Omaijaden die Macht in Andalusien erhalten, später begründeten sie in Algerien die Dynastie der Abd El Wadiden und in Marokko die der Meriniden.

Die Sanhadja sind die einzigen Kamelnomaden unter den Grossstämmen. Ihre Herkunft ist unbekannt, sie sind erst ins Bewusstsein der Nordafrikaner gerückt, als sie vom äussersten Süden Marokkos nach Norden vordrangen. Sie begründeten die Dynastie der Almoraviden und eroberten sich ein Reich, das vom Süden Marokkos über Spanien bis Tunesien reichte.

Die Masmuda bilden die älteste und grösste zusammen hängende Gruppe sesshafter  Berber. Sich machten bis ins 10. Jh. Den Grossteil der Einwohner Marokkos und auch Algeriens aus, bevor vom Osten her die Zennata und von Süden die Sanhadja eindrangen. Im 11. Und 12. Jh. Begründeten sie die Dynastie der Almohaden und beherrschten das grösste Berberreich der Geschichte.

Nicht mehr in dieses System der Grossstämme passen die Tuareg und die Kabylen. Die Tuareg bilden einen Berberstamm mit einer völlig eigenen ausgeprägten Sprache und Kultur.

Was hält die Grossstämme zusammen? In erster Linie die Sprache. Die Zennata sprechen Zennatiya, die Sanhadja das Tamazight, die Masmuda das Taschelhait, die Tuareg das Tamahaq. Diese vier Sprachgruppen zerfasern sich jedoch in eine Vielfalt von Dialekten, die sich nicht immer klar einordnen lassen.

Neben der Sprache gibt es noch etwas, das über die Gegensätze hinweg die verwirrende Vielfalt der Stämme verbindet: die Sozialordnung.

Anders als die Araber haben die meisten Berber nie über ihre Stammesgrenzen hinausgesehen, und entsprechend ist ihre Lebensform geblieben. Sie haben sich je nach Dialekt Imatighen, Imarzhen, Imusar – freie Männer – genannt und über Jahrhunderte hartnäckig an dieser Ehrbezeichnung  festgehalten. Dieser trotzige Stolz auf die Unabhängigkeit, dieses Beharren, letztlich niemandem zu dienen ausser dem Herrn der eigenen kleinen Sippe – dies ist nach wie vor die eigentliche Berbertradition. Nur die Angst vor feindlichen Angriffen konnte sie dazu bewegen, sich einem übergeordneten Führer zu beugen, sonst aber zogen sie es vor, im eigenen Dorfrat neben Gleichrangigen dasselbe Stimmrecht zu behalten.

Äussert sich hier ein tiefsitzender Wunsch nach Demokratie? Die Frage stellt sich unwillkürlich, und nicht zufällig wurden für diese Lebensform die Begriffe „Stammesdemokratie, „Dorfdemokratie“ eingeführt. Umstrittene Begriffe allerdings, den mit Demokratie in unserem Sinne haben sie wenig zu tun. Die Unterschiede beginnen schon, indem über die Grossfamilie, die aus zehn bis fünfzehn Kleinfamilien besteht, ein „Ältester“ als unantastbarer Patriarch herrscht. Demokratie beginnt erst, sobald drei oder vier dieser „Ältesten“ zusammentreffen und einen Sippenführer wählen. Der Sippenführer kann nicht mehr so unumschränkt herrschen, er muss immerhin seine Entscheidungen mit den „Ältesten“ absprechen, eine Demokratie unter Regierenden. Noch deutlicher wird dies, sobald sich mehrere Dörfer zusammenschliessen und ihre Sippenführer einen Rat bilden: die Djemma (Versammlung). In solche einem Herrschaftsgebiet werden die Felder gemeinsam bestellt, wird das Vieh gemeinsam gehütet, werden die Vorräte in einem gemeinsamen Speicher gelagert. Aber – und dies ist der entscheidendste Unterschied zu unseren Demokratien – die einfachen Bauern haben keine Möglichkeit, gegen die Beschlüsse ihres Parlaments zu protestieren, auch können sie die Ratsmitglieder nicht abwählen, denn das Wahlrecht beginnt ja erst bei den „Ältesten“.

Doch die Stammesdemokratie, in der sich die Patriarchen gegenseitig eifersüchtig überwachten, konnte zeitweise ihr mühsam ausbalancierte Gleichgewicht verlieren – und dann trat das ein, was in auch in den Bauerngesellschaften am Euphrat und Tigris, am Nil und in den arabisch-islamischen Fürstentümern eingetreten ist: Ein Führer vermochte die Macht der anderen zu überspielen, und mit einem Male drohte die absolute Tyrannei eines Einzelnen über viele (heute würde man statt Tyrann Warlord sagen).

Die Berber lernten beides kennen: Stammesdemokratie und Despotenherrschaft, dies waren die zwei Pole ihres Daseins.

Besucht man Berberdörfer vor allem in Marokko, erkennt man sofort, auf welche Weise dort regiert wurde. Lebten die Einwohner nach den Prinzipien einer Stammesdemokratie, so sind die Häuser alle in gleicher Höhe gebaut, und man merkt es den schmucklosen lehm- oder Ziegelmauern nicht ohne weiteres an, ob hinter ihnen eine reiche oder arme Familie wohnte. Viele Ortschaften der Kabylen in Algerien, der Rifkabylen im marokkanischen Norden und den Schlöh-Berbern im Atlasgebirge bieten dieses Bild.

Ihre Häuser sind meist zweigeschossig, im Erdgeschoss lagert nachts das Vieh in einem quadratischen Innenhof. Im ersten Stock wohnten die Menschen, und dies meist spartanisch einfach. Mittelpunkt solcher Dörfer ist der Agadir, die Speicherburg, die nur unwesentlich die zweigeschossigen Häuser überragt. Diese Burg bedeutet keine Machtdemonstration einer einzelnen Familie. Im Gegenteil. Dorfbewohner, die annähernd gleich reich oder arm sind, hatten den Speicher gemeinsam gebaut, besitzen ihn gemeinsam und denken bei ihren eher bescheidenen Geldmitteln weniger an schmuckvolle Ornamente. Jeder Berber besass in den gemeinsam errichteten Bau seine eigene Kammer, wo er aufbewahren konnte, was er wollte, Getreide, Datteln, Feigen, Kleider, Waffen. Der Agadir besass aber noch eine weitere Funktion: Hier traf sich der Rat der Familienoberhäupter und wählt die Inflas (die Männer des Vertrauens). Die Gewählten bildeten die Regierung des Dorfes, sie verwalteten den Speicher, sie sprachen Recht, entschieden über Krieg und Frieden mit Nachbarstämmen.

Ganz anders sehen die Dörfer der absoluten Berberfürsten aus. Eine grosse, prächtig verzierte Wohnburg, die Kasbah, überragt eine Anzahl niedriger, sehr einfacher Häuser; und man erkennt auf den ersten Blick, wo der Herr, wo die Beherrschten wohnten. Die oft bis sieben Stockwerke hohen Festungen aus Stampflehm sind an den Ecken mit Türmen begrenzt, die durch ihre grazilen und abwechslungsreichen Schmuckornamente bestechen. Die Kasbahs sind Zwingburgen, von denen aus Berberfürsten despotisch über rechtlose Untertanen regierten.

Zur ebenen Erde der Kasbah befanden sich die Pferdeställe und dort wurden auch die grossen Vorratsspeicher errichtet. Im Stockwerk darüber wohnten die zahlreichen Bediensteten. Die nächsten Stockwerke waren den Frauen der Fürstenfamilie vorbehalten. Der Fürst selbst residierte im obersten Stockwerk, natürlich in prunkvoll eingerichteten Zimmern, die mit ihren maurischen Bogen, ihren farbig gekachelten Wänden und den teppichbelegten Böden vom Einfluss komfortabler arabischer Stadtkultur künden.

Im schroffen Gegensatz zur Kasbah stehen die Häuser ausserhalb der hohen Festungsmauern. Es sind niedrige, einstöckige Bauten aus Stampflehm, in ihnen wohnten die Oasenbauern, die zum Stamm der Unterworfenen gehörten. Daneben aber gab es die noch einfacheren Häuser der Harratin, der sogenannten Dienstklasse, die die niedrigsten Arbeiten zu verrichten hatte. Diese Harratin mit ihrer ziemlich dunklen Haut sind schwarzafrikanischen Ursprungs. Einst waren sie von räuberischen Nomaden als Sklaven aus dem Sudan verschleppt worden.

Diese Lehmhochhäuser findet man besonders im marokkanischen Süden, in den Oasendörfern der Sahara und der Vorsahara.

Es gibt noch eine dritte interessante Form des Berberdorfes: den Ksar (ausgesprochen Xar, Mehrzahl Ksour). Diese oft weit ausgedehnten Wehrdörfer haben innerhalb ihrer festungsartigen Schutzmauern nicht nur Vorratsspeicher, Wohnhäuser und Strassen, sondern auch Bewässerungsbrunnen, in manchen Fällen sogar Gärten und wichtige Felder. Wehrdörfer dieser Art gibt es bis heute vorwiegend in der Sahara, vor allem in den Oasen des Tafilalet im Südosten Marokkos.

In Wehrdörfern wie diesen hatte sich – anders als in Kasbahdörfern – meist keine Grossfamilie zur absoluten Herrschaft aufgeschwungen. Die Tafilalet-Oasen etwa waren schon vor Jahrhunderten durch Zennata-Berber erobert worden, und sie hatten ihre eigene Stammesdemokratie mitgebracht. Ihre mitgebrachte Demokratie liessen sie nur für die eigenen Krieger gelten, sie allein durften sich „freie Männer“ nennen, nicht die Unterworfenen. Und so besass nur der Bürger der Herrenklasse ein Stimmrecht.

Orientalisten und Völkerkundler fühlen sich seit langem magisch angezogen von den berberischen Wohnburgen und Wehrdörfern, den Kasbahs und Ksour. Gar zu eindrucksvoll sind die manchmal bis zu sieben Stockwerke hohen, lehmgestampften „Wolkenkratzer der Wüste“. Dies ist eine Baukunst mit alter Tradition, darin sind sich alle Forscher einig.

Lange Zeit glaubte man, römische Einflüsse zu erkennen. Schliesslich hatten ja die Römer jahrhundertelang halb Nordafrika in ihrem Besitz und bauten von Libyen bis Marokko ihre Städte, von denen es bis heute noch genug eindrucksvolle Ruinen gibt. Nachweislich haben die Mauren sich vom römischen Haus mit seinem quadratischen Innenhof, dem Atrium, und dem herumlaufenden überdachten Säulengang beeinflussen lassen. Aus dem Atrium ist dabei der andalusische Patio geworden, verändert durch arabische Stilelemente. Patios mit lauschigem Säulengang und Springbrunnen gehören seitdem zu alle wohlhabenden alten Häuser von Südspanien bis Marokko, von der nordafrikanischen Atlantikküste bis Tunesien. Man nimmt an, dass die Berber diesen Baustil in die kargen Oasen des Südens gebracht hatten und nach ihren ganz anderen Bedürfnissen veränderten. So besitzen selbst die schmucklosesten Bauernhäuser des Atlasgebirges einen Patio.

Lange Zeit haben Völkerkundler die Unterschiede zum römischen Baustil nicht besonders hoch bewertet. Die Kasbah hat ja z. B.  – ganz unrömisch – nach aussen hin abweisende Mauern und zeigt nur nach innen ihr einladendes Gesicht.

In den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts drangen Forscher in das bis dahin unbekannte Jemen ein. Sie berichteten über fünf bis siebenstöckigen Lehmhochhäuser, wie sie sich dort zu Dutzenden und manchmal zu Hunderten in den Oasenstädten zusammendrängten. Die Forscher wagten den kühnen Schluss, dass die Wohnburgen der Berber im Stil mit den der Jemeniten eng verwandt seien. Es wurde zunehmend die Vermutung bestätigt, dass noch vor unserer Zeitrechnung südarabische Völker noch Nordafrika einströmt waren, sich mit den Berbern vermischt hatten und schon damals Lehmhochhäuser bauten. Eine Tradition von zwei Jahrtausenden also? Mehr noch. Heute weiss man, dass selbst die Jemeniten die lehmgestampften „Wolkenkratzer“ nicht erfunden haben, auch sie sind nur Erben einer viel älteren Kultur – der von Babylon. Fünf- bis siebenstöckige Lehmhochhäuser, reich mit Ornamenten verziert, standen einst in den Städten des babylonischen Weltreichs, sie dürften sogar damals schon über weite Gebiete des Vorderen Orients, wenn nicht bis ins Innere Nordafrikas verbreitet gewesen sein. Nur in den entlegenen Gebieten wie dem Jemen und dem Süden Marokkos hat sich diese uralte Kultur erhalten. Sie ist älter ist als das antike Griechenland – ein letzter Rest Babylon im 20. Jahrhundert also.

 

Aus Gerhard Schweizer „Auf der Suche nach den Berbern“ aus Marokko fürs Handgepäck 2013

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