Kunst oder mit den Augen sehen kann jeder

Tuschmalerei, vor allem Kalligrafie, auch die Kunst, Zwergbäume zu züchten, Tempelarchitektur, buddhistische Figürlichkeit, Gartenkunst und selbst der Kimono wurden vor rund tausend Jahren aus China übernommen. Während die Chinesen der Welt ihr Können gerne zur Schau stellen, haben die Japaner Einfachheit, Schlichtheit, das Understatement, zur unnachahmlichen Kunstform entwickelt. In ihrer Kunst verbergen sich höchste Raffinesse und verfeinerte Ästhetik hinter gewollter Schlichtheit. Nichts täuscht leichter als die «Natürlichkeit» japanischer Gartenanlagen oder eines Blumenarrangements, als die sparsame Pinselführung auf einem Rollbild oder das auf wenige Worte reduzierte Kurzgedicht (Haiku), denn je konzentrierter sich ein Künstler zurückhält, desto mehr kommt es auf jedes Detail an.

Im Kunst- und Naturverständnis Ostasiens ist der Mensch nur ein Bestandteil des Ganzen, er ist nicht, wie überwiegend in westlichen Vorstellungen, Herr der Erde. Sich einzufügen in den Rhythmus der Natur, sich anzupassen, das Schicksal mit seinen vielen Katastrophen, den Erdbeben, den Taifunen, anzunehmen und aus jeder Lage das Beste zu machen, halten die Japaner für die vernünftigste Existenzbewältigung.

Diese Einstellung lässt sich deutlich in der japanischen Landschaftsmalerei erkennen. Nie steht der Mensch im Mittelpunkt. Stattdessen wird fast immer die Natur als Ganzes dargestellt: Berge, rauschende Wasserfälle, Flüsse, die sich durch Felder und Bambushaine winden. Klein, winzig klein, ordnet sich der Mensch in dieses Panorama ein, mit sparsamen Strichen charakterisiert. Nie wird der Mensch das Mass der Dinge. In der Malerei, wie in der Architektur, zeigt der Meister die Kunst des Weglassens, in der Sparsamkeit der Mittel.

Tuschmalereien mit ihren subtilen Schattierungen zwischen tiefen Schwarz und blassem Grau wirken auf Japaner nicht weniger farbig als bunter Ölbilder auf Europäer. Sie entstehen mit explosionsartiger Spontaneität in einem kurzen Moment höchster Konzentration, und der Maler bringt sie auf dem Boden kniend zu Papier. Der dominierende Stil der sparsamen, fast abstrakten Pinselführung entstammt dem Zen Buddhismus, der in den kleinen, einfachen Dingen, in Kirschblüten und der natürlichen Maserung des Holzes und selbst in der Hässlichkeit einer angestossenen Keramikschale, die einzige, die wahre Schönheit sah.

Kunst darf sich nach japanischem Empfinden nicht weit von der Natur entfernen. Auch die berühmten japanischen Gärten wirken auf den ersten Blick wie ein Stück unverdorbener Natur, während sie in Wahrheit komplizierte Kompositionen darstellen, in denen sich kein Stein zufällig zur Seite neigt, in denen im Herbst kein blutrotes Ahornblatt zufällig auf grünes Moos herabsinkt, in denen kein sprudelnder Quell ungeplant sein Wasser über rundgeschliffene Kiesel rieseln lässt.

Auch Ikebana, die Kunst des Blumenarrangements, erreicht mit einigen wenigen Blüten und Zweigen intensivere Wirkungen als der üppigste europäische Blumenstrauss.