Japaner sind anders

Individualisten haben es in Japan schwer. Was im Westen als Ideal vergöttert, die ausgeprägte Einzelpersönlichkeit, die sich betont von der Mehrheit abhebt, die ihre Überzeugungen klar und entschieden vertritt, flösst den Japanern Unbehagen ein. Nicht Selbstverwirklichung gilt als Ziel menschlichen Strebens, sondern die harmonische Einordnung des einzelnen, das reibungslose Miteinander-Zurechtkommen. Respektiert wird in Japan nicht, wer sich abhebt und unterscheidet, sondern wer sich anpasst und einfügt. Die innerjapanische Gesellschaftsordnung basiert auf der Unterscheidung von drinnen und draussen. Drinnen (uchi) bezeichnet diejenigen, die zusammengehören, gemeinsam eine Gruppe bilden, also Familie, Schulklasse, Betriebsgemeinschaft. Draussen (soto) stehen die Fremden. Der eigenen Gruppe zu dienen gilt als soziales Ideal. Einer fremden Gruppe schuldet man nichts. Das Ausland bleibt soto, eine fremde, separate Welt, auf welche innerjapanische Normen nicht anwendbar sind. Das Ideal von der Menschheit als weltweite Schicksalsgemeinschaft ist den meisten Japanern nach wie vor fremd. Ausländer sind ihnen willkommene Geschäftspartner, kluge Lehrer, begnadete Künstler, neugierige Touristen, exotische Wilde, vieles, doch am wenigsten Mitmenschen.

Japans Verfassung kennt kein Asylrecht. Wenn Menschen draussen in Not geraten, fühlen sich die meisten Japaner nicht angesprochen.

Alle Gruppen verfolgen dasselbe Ziel, die Erhaltung der Harmonie zwischen den Mitgliedern. Harmonie lässt sich nur erreichen, wenn jeder einzelne allen wichtigen Entscheidungen zustimmt. Konsens ist unverzichtbar. Mehrheitsentscheidungen halten die Japaner für ungerecht. Dass ein Willensakt, den 51 Prozent beschliessen, den übrigen49 Prozent, die ihn ablehnen, aufgezwungen werden soll, leuchtet ihnen nicht ein. Sie nennen das ein Diktat der Mehrheit. Gewiss ist ein breiter Konsens aller schwerer herzustellen als eine knappe Mehrheit, doch ebenso steht fest, dass Gemeinsamkeit in Japan leichter erreichbar ist als anderswo, denn Japaner sind aufgrund ihres Harmoniebedürfnisses eher bereit, von der eigenen Meinung abzurücken.

Das Pflichtgefühl der Japaner ist allgemein stärker ausgeprägt als ihr Bewusstsein der Rechten, die ihnen die Verfassung heute gewährt. Bezeichnend für Japaner ist, dass sie sich zuallererst Menschen verpflichtet fühlen. Abstrakte Normen sind demgegenüber zweitrangig. Bei Japans Kapitulation 1945 wandte sich der Kaiser Hirohito an seine Untertanen und forderte sie auf, «das Unerträgliche zu ertragen». Der Kaiser hatte das Volk aufgefordert, die Niederlage zu akzeptieren. Nicht der abstrakte Begriff Vaterland hatte den Kampfgeist angespornt, es war eher die persönliche Treuepflicht gegenüber dem Kaiser. Sich Menschen verpflichtet zu fühlen, dem Kaiser, dem Feudalherren, den Mitschülern, den Berufskollegen, verweist absolute moralische, ethische oder rechtliche Postulate auf einen niederen Rang. Gerechtigkeit, Wahrheit, Menschlichkeit, solche Werte erscheinen den meisten Japanern vager und blasser als das Gebot der Treue.

Japaner reagieren auf eigenes verwerfliches, ja verbrecherisches Verhalten völlig anders als Europäer und Amerikaner. Scham tritt an die Stelle von Schuld. Schuldig macht sich, wer gegen absolute Moralgebote verstösst, wie sie in den christlichen Zehn Geboten formuliert sind. Schuld ist eine individuelle Belastung, sie folgt aus der Verletzung moralisch-ethischer, meist religiöser Pflichten. Schuld bedrückt das Gewissen auch dann, wenn kein anderer Mensch von dem Regelverstoss weiss. Scham hingegen stellt sich nur gegenüber anderen ein, sie verlangt Mitbeteiligte, Mitwisser. Sie erfolgt auf die Missbilligung durch Mitmenschen, meist Nahestehende, also Angehörige der eigenen Gruppe. Der individualistischere Westen orientiert sich überwiegend an absoluten Moralgeboten, während sich die stärker in Gemeinschaften eingebundenen Japaner in erster Linie bemühen, den jeweiligen Verhaltensregeln ihrer Gruppe zu folgen. Scham zügelt Regelverstösse wirksamer als Schuld. Aus der Scham ist keine Befreiung möglich, sie wirkt umso belastender, je mehr Menschen um das Fehlverhalten wissen. Sigmund Freud hat seine Psychoanalyse aus Schuldkomplexen, vor allem aus sexuellen Verdrängungen, hergeleitet. Es kann kein Zufall sein, dass die Psychoanalyse in Japan kaum eine Rolle spielt, dass Psychiater in Japan kaum gefragt sind. In keinem anderen Industriestaat wird ihre Hilfe so wenig gebraucht, weil es weitgehend an Schuldgefühlen fehlt.

Nicht ein Japaner hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor einem japanischen Gericht wegen Kriegsverbrechen verantworten müssen. Stattdessen benahm sich die Justiz so, als gäbe es nicht den geringsten Anlass, sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen. In der breiten Öffentlichkeit regte sich kaum Widerstand gegen dieses Totschweigen. Ausserdem, wie hätte man irgendjemanden für Handlungen verantwortlich machen können, die er nach bestem Gewissen uneigennützig auf Befehl des Kaisers begangen hat? Jeder brutale Soldat, jeder unbarmherzige Kolonialbeamte wusste sich von seinen Vorgesetzten voll gedeckt, jeder General war überzeugt, im Namen des Kaisers zu handeln.

Was immer Japaner im Zweiten Weltkrieg taten, geschah im Interesse der höchsten und umfassendsten Gruppe (uchi), in die sich jeder zum Wohl des eigenen Volkes eingebettet weiss. Dem Volk tapfer und selbstlos zu dienen stellt somit einen Akt höchster Moralität dar, ungeachtet der Folgen für Nichtangehörige der Gruppe (soto), für Aussenstehende, Nichtjapaner.